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Botulinumtoxine in der Urologie:
Stand 2006


Botulinumtoxine werden seit 1981 bei unterschiedlichen Indikationen therapeutisch eingesetzt (Tab. 1). Auch in der Urologie gewinnt ihr Einsatz in der Therapie neurogener und nicht-neurogener Blasenfunktionsstörungen zunehmend an Bedeutung. Im nachfolgenden Beitrag wird der heutige Stand der Botulinum-Therapie in der Urologie zusammenfassend dargestellt.


Therapiegrundlagen

    Botulinumtoxin wird vom grampositiven, stäbchenförmigen, sporenbildenden Bakterium Clostridium botulinum unter anaeroben Bedingungen produziert. Es stellt das stärkste bekannte Gift dar. Theoretisch können mit 1 mg des Toxins bis zu 10.000 Menschen getötet werden. Insgesamt sind sieben immunologisch unterschiedliche Serotypen des Botulinumtoxins bekannt (BTX-A/B/C/D/E/F/G), von denen sich aber nur BTX-A und BTX-B in breiter klinischer Anwendung befinden (Tab. 2). Das eigentliche Botulinumprotein besteht aus einer schweren Kette (ca. 100 kD) und einer leichten Kette (ca. 50 kD), die von Hüllproteinen umgeben sind. Das Toxin bindet über die
    schwere Kette mit hoher Affinität an cholinerge Nervenendigungen im Bereich der Synapsen von motorischen Endplatten, in sympathischen und parasympathischen Ganglienzellen sowie in postganglionären parasympathischen Zellen. Nach der Bindung wird das Toxin in die Nervenzellen aufgenommen und dort in die leichte und schwere Kette gespaltet. Die leichte Kette wandert anschließend zur präsynaptischen Membran. Dort spaltet der Toxin-Serotyp A als Endoprotease das SNAP-25 (synaptosomal-associated protein of 25 kD), der Serotyp B das vesicle associated membrane protein (VAMP). SNAP-25 und VAMP sind Bestandteile eines Fusionskomplexes aus drei Proteinen (SNAP-25, Syntaxin, VAMP). Dieser Komplex ist notwendig, damit die mit Azetylcholin gefüllten Vesikel der Nervenzellen mit der präsynaptischen Membran verschmelzen können und so Azetylcholin freigesetzt wird, das dann wiederum mit den Azetylcholinrezeptoren der Synapse der Muskelzellen reagiert und die Muskelkontraktion auslöst. Das Botulinumtoxin unterbindet damit präsynaptisch die Ausschüttung von Azetylcholin; es resultiert eine schlaffe Lähmung der nachgeschalteten Muskulatur (chemische Denervierung).

    Die biologische Aktivität des Botulinumtoxins wird in sog. Mouse Units (MU) angegeben. Dabei entspricht 1 MU der Toxinmenge, die nach intraperitonealer Gabe bei 50% der Mäuse zum Tode führen würde (= LD50). Die MU der verschiedenen BTX-Serotypen unterscheiden sich bei den kommerziell erhältlichen Präparaten. Ein Umrechnungsfaktor wurde bisher nur für die zervikale

    Dystonie etabliert: 1 MU Botox® = 4 MU Dysport® = 50 MU Neurobloc®. Diese Umrechnungsformel darf aber nicht automatisch auf andere Organsysteme wie die Harnblase übertragen werden. Im Urogenitaltrakt geht man bei den beiden am häufigsten verwendeten Präparaten von einem Umrechnungsfaktor Botox® : Dysport® von 1 : 3 bis 1 : 5 aus. Letztendlich muss aber für jedes Präparat und für jedes Anwendungsgebiet die therapeutische Dosis jeweils neu ermittelt werden.

    Im Tiermodell diffundiert BTX-A nach intramuskulärer Injektion von 10 MU/0,1 ml bis zu 4,5 cm weit. Der biologische Effekt nimmt abhängig von der injizierten Menge vom Injektionsort zur Peripherie hin ab. Faszien stellen mechanische Barrieren dar, die die Diffusion des Toxins erheblich behindern können (zu beachten bei der Injektion in eine fibrotisch veränderte Harnblasenwand!).

    Nach einigen Monaten wird das Toxin proteolytisch inaktiviert; es kommt zur Bildung von neuen Fusionsproteinen, und die Synapse wird wieder funktionstüchtig. Parallel dazu erfolgt in quergestreifter Skelettmuskulatur eine Reinnervation der gestörten neuromuskulären Übertragung durch Aussprossung (sprouting) neuer terminaler Nervenendigungen. Ein solches Sprouting konnte bisher in der glatten Harnblasenmuskulatur nicht nachgewiesen werden [1].

Ansatzpunkte der Botulinum-Therapie im Bereich der Harnblase
    Das Wirkprinzip einer präsynaptischen Blockierung im Bereich der cholinergen neuromuskulären
    Übertragung mit nachfolgender schlaffer Lähmung der nachgeschalteten Muskulatur lässt sich im Bereich der Harnblase in unterschiedlicher Weise ausnutzen.

    Die physiologische Harnblasenfüllung und Harnblasenentleerung unterliegen einem komplexen Zusammenspiel sympathischer, parasympathischer und somatischer Regelkreisläufe, deren Endstrecke vereinfacht dargestellt im Bereich der Harnblase der parasympathisch cholinerg innervierte Musculus detrusor vesicae, der alpha-adrenerg innervierte Blasenhals und der cholinerg innervierte Sphinkter-externus-Bereich im Diaphragma urogenitale ist (Abb. 1).

    Nur das korrekte Zusammenspiel von M. detrusor vesicae und internem bzw. äußerem Schließmuskelsystem ermöglicht eine korrekte physiologische Urinspeicherung bei niedrigen intravesikalen Drücken und eine Miktion mit Detrusorkontraktion und gleichzeitiger Relaxierung des Beckenbodens (Abb. 2). Klinisch bedeutsame Störungen in diesem Zusammenspiel sind die Detrusor overactivity und das Dysfunctional

    voiding bzw. die neurogene Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (Klassifikation der International Continence Society [ICS] aus dem Jahr 2002).

Dysfunctional voiding und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
    Kommt es während der Miktionsphase nicht zur Entspannung des Beckenbodens, so resultiert daraus eine subvesikale Obstruktion. Bei neurogenem Grundleiden wird dies bei Steigerung der Beckenbodenaktivität während der Miktion als Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie bezeichnet, bei lediglich fehlender Beckenbodenentspannung als Non-Relaxing Urethral Sphincter Obstruction; bei neurologisch gesunden Patienten sind solche Störungen als Dysfunctional voiding klassifiziert (ICS-Klassifikation, 2002).

    Das klinische Bild des Dysfunctional voiding ist durch einen abgeschwächten, stakkatoförmigen Harnstrahl und durch Restharnbildung charakterisiert. Insbesondere die Restharnbildung führt zu weiteren klinischen Symptomen wie Harnweginfekten und in schweren Fällen zur konsekutiven Schädigung des oberen Harntraktes mit vesikorenalem Reflux, Stauungsnieren, Pyelonephritiden bis hin zu bleibenden Nierenschäden. Das therapeutische

    Spektrum umfasst beim Dysfunctional voiding insbesondere die Konditionierung mittels Miktionstrainings ggf. unter Biofeedback-Kontrolle. Bei neurogener Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind solche Konditionierungsmaßnahmen aufgrund der gestörten nervalen Versorgung nicht erfolgversprechend. Hier steht z.B. bei Querschnittsymptomatik und Restharnbildung der saubere oder sterile intermittierende Einmalkatheterismus im Mittelpunkt der Therapie, bei Therapieversagen die Sphinkterotomie mit dem Problem der nachfolgenden Harninkontinenz. Bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie bzw. Dysfunctional voiding kann durch die periurethrale Botulinum-A-Injektion mit konsekutiver Lähmung des quergestreiften Diaphragma urogenitale die Miktion verbessert und die Restharnbildung reduziert werden. Die Injektion erfolgt dabei entweder über das Perineum oder transvaginal periurethral in den Beckenboden oder (von den Urologen) bevorzugt unter endoskopischer Kontrolle im Sinne einer Quadranten-Injektion im Bereich des sichtbaren Sphinkterbereichs (Abb. 3). Die injizierte Dosis hängt vom Injektionsort und vom gewählten Präparat ab (Tab. 3).

Detrusorüberaktivität
    Die Detrusorüberaktivität ist durch vorzeitige, unwillkürliche Detrusorkontraktionen definiert. Die Detrusorüberaktivität kann
    durch neurogene Störungen (frühere Bezeichnung: Detrusorhyperreflexie) oder nicht-neurogene Störungen (frühere Bezeichnung: Detrusorinstabilität) bedingt sein. Das klinische Bild der Detrusorüberaktivität wird durch häufigen Harndrang (bei neurogener Genese nur bei erhaltener Harnblasensensorik), Pollakisurie und ggf. Harninkontinenz (Detrusor overactivity incontinence) charakterisiert.

    Das therapeutische Spektrum umfasst die anticholinerge orale Medikation mit tertiären (z.B. Oxybutynin, Flavoxat, Propiverin) oder quartären (Trospiumchlorid) Aminen, die sakrale Neuromodulation bzw. sakrale Deafferentation (bei komplettem Querschnitt), die Blasen(auto)augmentation und die Harnblasenersatzplastik (wenn die Urethra für die Miktion oder für einen intermittierenden Einmalkatheterismus nicht benutzbar ist).

    Bei der Detrusorüberaktivität kann die Blockierung der Detrusormuskulatur durch die transurethrale Injektion von Botulinumtoxin ein Therapieansatz bei Versagen der oralen Therapie sein, bevor Maßnahmen wie die Blasenaugmentation oder die Blasenersatzplastik durchgeführt werden müssen. Hierbei wird in Abhängigkeit vom gewählten Präparat die Toxinmenge mittels einer konventionellen

    Nadel über ein Zystoskop in ca. 30 Einzelinjektionen in die Detrusormuskulatur injiziert (Tab. 4;
    Abb. 4
    ). Die Ureterostien und das Trigonum bleiben dabei ausgespart, um den physiologischen vesikoureteralen Verschlussmechanismus und die physiologische Öffnung des Harnblasenhalses bei der Miktionseinleitung nicht zu beeinträchtigen.

    Überwiegend findet in der Urologie das BTX-A-Präparat Botox® Verwendung. Nur vereinzelt sind Studienergebnisse mit Dysport® publiziert. Für Xeomin® wurden bisher keine Studienergebnisse zum Einsatz bei Harnblasenfunktionsstörungen veröffentlicht. BTX-B (Neurobloc®) findet gelegentlich bei BTX-A-resistenten Blasenfunktionsstörungen Anwendung [2]. Die therapeutische Effizienz der Botulinumtoxin-B-Injektion ist durch eine Doppelblindstudie belegt [3].

Therapieergebnisse
    Sowohl für die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie bzw. für das Dysfunctional voiding wie auch für die neurogene und idiopathische
    Detrusor overactivity wurden in den letzten Jahren Studien publiziert, die die Effektivität der Botulinum-Injektion bei diesen Symptombildern belegen.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
    In dieser Indikation wurde Botulinumtoxin ursprünglich zum ersten Mal im Bereich der Urologie eingesetzt [4]. Es handelte sich um die perineale Injektion von BTX-A bei querschnittgelähmten Patienten mit hohem Querschnitt und dyssynergem Miktionsverhalten, bei denen ein Einmalkatheterismus nicht möglich war. Durch die BTX-A-Injektion kam es zu einer signifikanten Abnahme der Restharnmenge bei gleichzeitiger Reduktion des Urethraldruckes. Schurch et al. untersuchten die periurethrale und die perineale Injektion von 100 MU Botox® bzw. 250 MU Dysport® und fanden dabei – gemessen am urethralen Verschlussdruck während der dyssynergen Miktion – Vorteile für die transurethrale Injektionstechnik (Reduktion des urethralen Verschlussdruckes um ca. 50% bei transurethraler Injektion und von ca. 40% bei perinealer Injektion)
    [5]. Der Effekt der BTX-A-Injektion konnte durch de Sèze et al. in einer prospektiv durchgeführten Doppelblindstudie bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie unterschiedlicher Genese (Querschnittlähmung, Multiple Sklerose) mit einer periurethralen Injektion von 100 MU BTX-A bzw. von 0,5% Lidocain gezeigt werden. Durch die Injektion von BTX-A wurde das Restharnvolumen signifikant vermindert und der urethrale Druck bei dyssynerger Miktion signifikant reduziert, während durch die Injektion von Lidocain keine Veränderungen erreicht werden konnten (Tab. 5). Der Therapieeffekt hielt bei 46% der Patienten drei Monate an [6].

Dysfunctional voiding
    Die Therapieerfahrungen aus der Behandlung der Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie wurden von einer Reihe von Untersuchern auch auf das nicht-neurogene Dysfunctional voiding übertragen. Die Datenlage ist dabei unübersichtlich, da in diese Patientenkollektive zum Teil Patienten mit neurogenen Grund- oder Begleiterkrankungen wie Multiple Sklerose und periphere Neuropathien mit aufgenommen und diese Patienten lediglich von der klassischen Indikation bei querschnittgelähmten Patienten mit dyssynergem Miktionsverhalten abgegrenzt wurden. Innerhalb dieser Kollektive sind dann Patienten mit nicht-neurogenem Dysfunctional voiding oft nicht weiter aufgeschlüsselt. Insgesamt zeigen aber die Untersuchungen, so zum Beispiel Kuo im bisher größten publizierten Krankengut mit 103 Patienten, den Effekt der transurethralen Botulinum-Injektion bei Dysfunctional voiding unterschiedlichster Genese. Kuo fand nach transurethraler Botulinum-Injektion (50–100 MU Botox®) eine Reduktion des
    maximalen urethralen Verschlussdruckes von durchschnittlich 65 auf 48 cm H2O, des maximalen Miktionsdruckes von durchschnittlich 62 auf 43 cm H2O und des Restharnvolumens von durchschnittlich 226 auf 112 ml. Bei 39 von 45 Patienten (= 87%), die bei chronischem Harnverhalt mit Dauerkatheter versorgt waren, konnte postoperativ der Dauerkatheter entfernt werden [7].

    Für Kinder mit Dysfunctional voi­ding existiert bisher nur der Fallbericht eines siebenjährigen Mädchens, das bei rezidivierenden Harnweginfekten und Enuresis bei Detrusor overactivity und Dysfunctional voiding nach frustanen verhaltenstherapeutischen und medikamentösen Therapieversuchen mittels periurethraler Botulinum-Injektion behandelt wurde. Nach Quadranten-Injektion von 20 MU Botulinum blieb das Kind bei einem follow-up von 18 Montaten ohne weitere Therapie symptomfrei [8].

Neurogene Detrusorüberaktivität
    Die neurogene Detrusorüberaktivität stellt nach der Erstpublikation von Stöhrer et al. (1999) heute sicherlich die häufigste Indikation zur Botulinum-Therapie dar [9]. Es wurde in der Zwischenzeit eine Reihe von Studien publiziert, die den therapeutischen Benefit der Botulinum-Injektion zeigen. Exemplarisch seien die Therapieergebnisse an 200 Patienten (davon 167 Patienten mit Querschnittverletzung) dargestellt, die an verschiedenen europäischen Zentren behandelt wurden [10] (Tab. 6). Bei diesen Patienten konnte nach Injektion von 300 MU BTX-A im Durchschnitt eine Erhöhung des Harnblasenvolumens von 272 auf 420 ml bei gleichzeitiger Zunahme des Restharnvolumens von 236 auf 387 ml erreicht werden. 132 der 180 inkontinenten Patienten waren nach BTX-A-Injektion komplett kontinent. Der Therapieeffekt war im Durchschnitt neun Monate nachweisbar.

    Für den Einsatz von Botulinum-toxin bei neurogener Detrusor overactivity im Kindesalter liegen limitierte Beobachtungen vor. Es handelt sich dabei in der Regel um Kinder mit Meningomyelozele und neurogener Detrusorüberaktivität, die auf die konventionelle Therapie mit oralen Anticholinergika mit und ohne begleitenden intermittierenden Einmalkatheterismus nicht ansprachen. Schulte-Baukloh et al. [11] und Riccabona et al. [12] berichten über 20 bzw. 15 Kinder mit neurogener Detrusorüberaktivität bei Meningomyelozele und erfolgloser konservativer Therapie. Nach transurethraler intramuskulärer Injektion von 10 bzw. 1 2 MU BTX-A/kg KG vergrößerte sich das durchschnittliche Reflexvolumen

    sowie die maximale Blasenkapazität signifikant, der maximale Detrusordruck wurde deutlich reduziert
    (Tab. 7). Bei gleichzeitigem intermittierendem Einmalkatheterismus wurden 13 von 15 Kindern kontinent [12]. Der Effekt der Injektion hielt ca. sechs Monate vor. Bei wiederholten Injektionen waren die urodynamisch messbaren Verbesserungen auch nach fünf Injektionen mit der Erstinjektion vergleichbar, so dass der Therapieeffekt auch bei mehrfacher Injektion nicht verloren ging [13].

Nicht-neurogene Detrusorüberaktivität
    Analog zur neurogenen Detrusorüberaktivität wurde BTX-A auch mit Erfolg bei nicht-neurogener Detrusorüberaktivität eingesetzt. Kuo berichtet über 20 Patienten mit Drang­inkontinenz, von denen neun Patienten nach Injektion von 200 MU BTX-A wieder kontinent waren, acht Patienten eine Besserung verspürten und nur drei Patienten ohne therapeutischen Benefit blieben. Bemerkenswert ist, dass bei sechs Patienten wegen großer Restharnmengen der intermittierende Einmalkatheterismus notwendig wurde, und dass 15 von 20 Patienten über eine verzögerte und erschwerte Miktionseinleitung berichteten. Der Effekt der BTX-Injektion war urodynamisch über einen Zeitraum von über sechs Monaten nachweisbar [14]. Werner et al. injizierten bei 26 Frauen mit Dranginkontinenz 100 MU BTX-A in den M. detrusor [15]. Bei den Kontrolluntersuchungen waren nach vier Wochen 14 von 26 Frauen, nach zwölf Wochen 13 von 20 Frauen und nach 36 Wochen drei von fünf Frauen kontinent. Bei zwei Frauen wurde ein vorübergehender Einmalkatheterismus notwendig. Flynn et al. konnten bei schwerer Dranginkontinenz bei 20 Frauen eine Reduktion der täglichen Inkontinenzepisoden von durchschnittlich 7/Tag auf 1,66/Tag nach drei Monaten erreichen; danach nahm die Zahl der Inkontinenzepisoden wieder auf 4/Tag zu, so dass in dieser Arbeit der Therapieeffekt über drei Monate nachweisbar war [16].

    Popat et al. verglichen den Einsatz von 200 MU bzw. 300 MU Botulinumtoxin bei nicht-neurogener bzw. neurogener Detrusorüberaktivität [17]. Dabei waren die Therapieergebnisse trotz niedrigerer BTX-A-Dosis bei nicht-neurogener Detrusorüberaktivität vergleichbar, mit etwas besseren Therapieergebnissen bei neurogener Detrusorüberaktivität (Tab. 8). Ob diese Tendenz zu besseren Therapieergebnissen bei neurogener Detrusorüberaktivität durch die höhere BTX-A-Dosis hervorgerufen wird, bleibt in der Arbeit ungeklärt. Auch in dieser Untersuchung mußten 69% der Patienten mit neurogener Detrusorüberaktivität und 19% der Patienten mit nicht-neurogener Detrusorüberaktivität postoperativ einen intermittierenden Einmalkatheterismus durchführen.

Weitere, zurzeit nicht gesicherte Indikationen für eine Botulinum-Therapie
Interstitielle Zystitis

    BTX-A wurde bei Patienten mit klinisch gesicherter interstitieller Zystitis eingesetzt. Im Gegensatz zur Detrusorüberaktivität erfolgte in den vorliegenden Untersuchungen die BTX-A-Injektion in das Trigonum und in den Blasenboden, um die hier vorliegende dichte sensorische Innervation zu treffen, ohne gleichzeitig die Blasenentleerung durch eine chemische Denervierung der Detrusormuskulatur zu beeinträchtigen. Für die in den Arbeiten postulierte Wirkung von Botulinum auf sensorische Nervenfasern gibt es aber zurzeit keine experimentell abgesicherten pathophysiologischen Grundlagen. Smith et al. berichten über einen deutlichen Therapieeffekt bei 13 Patienten mit interstitieller Zystitis nach BTX-A-Injektion in das Trigonum und in den Harnblasenboden mit einer Steigerung der maximalen Blasenkapazität um ca. 58% und einer Reduktion der Miktionsfrequenz um ca. 45%. Die Schmerzen besserten sich – gemessen an einer visuellen Analogskala – um 79%. Die subjektive Befundbesserung war für drei Monate nachweisbar [18]. In einem vergleichbaren Therapieansatz mit simultaner BTX-A-Injektion sowohl in die Detrusormuskulatur (100 MU) wie auch in das Trigonum (100 MU) konnte Kuo dagegen nur bei zwei von zehn Patienten mit interstitieller Zystitis eine subjektive Befundverbesserung erreichen; kein Patient wurde symptomfrei [19]. Kuo, sonst ein Protagonist der Botulinum-Therapie, folgert daraus, dass Botulinum in der Therapie der interstitiellen Zystitis keinen Stellenwert hat.

Sonstige Blasenentleerungsstörungen
    Erste limitierte Anwendungsbeobachtung bei schlaffer Blase (Detrusor underactivity) oder subvesikaler Obstruktion sind beschrieben [20, 21]. Diese letztendlich bisherigen Einzellfallberichte bedürfen aber der weiteren Überprüfung in größeren Untersuchungsserien.

Zusammenfassung
    Sowohl für BTX-A wie auch für BTX-B konnte durch Studien der therapeutische Benefit bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sowie bei neurogener sowie nicht-neurogener Detrusorüberaktivität eindrucksvoll belegt werden. Der Therapieeffekt ist in der Regel zwischen sechs und neun Monaten nachweisbar, in Einzelfällen auch über mehr als ein Jahr. Beim nicht-neurogenen Dysfunctional voiding ist die Datenlage limitiert, der therapeutische Benefit nicht sicher nachgewiesen. Die Therapieergebnisse der Botulinum-Injektion bei der interstitiellen Zystitis sind widersprüchlich; die postulierte Wirkung von Botulinumtoxinen auf sensorische Nervenfasern ist nicht experimentell bewiesen und Plazebo-kontrollierte Studien fehlen. Der Einsatz von Botulinum wird sich aber in der Urologie in Zukunft sicherlich auf weitere Indikationen bei Blasenentleerungsstörungen unterschiedlicher Genese ausweiten. Insgesamt hat das Botulinumtoxin die therapeutischen Möglichkeiten bei der Behandlung der Harnblasenentleerungsstörungen deutlich erweitert.

Verfasser: Prof. Dr. med. Gerhard Zöller, Urologische Universitätsklinik Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen, Tel.: (0551) 392641, Fax: (0551) 392213, E-Mail: gzoeller@med.uni-goettingen.de

Literatur:
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[9] Stöhrer M, Schurch B, Kramer G, et al. 1999. Botulinum toxin in the treatment of detrusor hyperreflexia in spinal cord injured patients: A new alternative to medical and surgical procedures? Neurourol Urodyn 18:401-402.
[10] Reitz A, Stöhrer M, Kramer G, et al. 2004. European experience of 200 cases treated with botulinum-A toxin injections into the detrusor muscle for urinary incontinence due to neurogenic detrusor overactivity. Eur Urol 45:510-515.
[11] Schulte-Baukloh H, Michael T, Sturze-becher B, Knispel H. 2003. Botulinum-A toxin detrusor injection as a novel approach in the treatment of bladder spasticity in children with neurogenic bladder. Eur Urol 44:139-143.
[12] Riccabona M, Koen M, Schindler M, et al. 2004. Botulinum-A toxin injection into the detrusor: a safe alternative in the treatment of children with myelomeningocele with detrusor hyperreflexia. J Urol 171:845-848.
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