Trotz einer im deutschen Gesundheitssystem einzigartigen Regulierungsdichte steht die
Arzneimittelversorgung immer wieder im Blickpunkt von Akteuren der Gesundheitspolitik.
Jeder neue Eingriff bedeutet aber immer einen schwierigen Balanceakt, der nicht immer
gelingt. 2011 wurde in Deutschland die frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln im
Rahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) eingeführt. Auf der Basis
dieser Entscheidung verhandeln Hersteller und Gesetzliche Krankenversicherung einen
Erstattungsbetrag. Anlässlich eines Bayer Vital-Pressegesprächs* in Berlin haben
Experten die Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln u.a. am Beispiel der Onkologie
in den Blick genommen. Dabei werden Schwächen des Beurteilungsprozesses deutlich,
die auf Grund der Komplexität des Verfahrens und der Methoden nicht immer sichtbar
werden.
Forderung nach stärkerer Patientenbeteiligung
Vor dem Hintergrund von versorgungsrelevanten Entscheidungen zu Arzneimitteln, der
erwünschten Patientenorientierung in der Gesundheitsversorgung sowie der sozialrechtlich
geforderten Eigenverantwortung der Versicherten ist es erforderlich, die Patienten an
medizinischen oder regulatorischen Entscheidungen stärker zu beteiligen. Darauf wies
Prof. Dr. Axel Mühlbacher, Professur für Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement,
Hochschule Neubrandenburg, hin. Er betonte: "Regulatorische Entscheidungen zur
Therapie werden heute überwiegend aus der Sicht von Experten beurteilt. Die
Perspektive der Patienten bleibt bei der Bewertung der Entscheidungskriterien
weitestgehend unberücksichtigt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die berücksichtigten
Entscheidungskriterien aus Patientensicht nicht zwangsläufig deckungsgleich sein
müssen mit der Perspektive der Experten".
In Deutschland ist die Erhebung und Berücksichtigung des Patientennutzens im
Sozialgesetz verankert (§35b SGB V). Bei der frühen Nutzenbewertung über den
Zusatznutzen von Arzneimitteln müssen auch patientenrelevante Endpunkte
berücksichtigt werden. Das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen) hat erkannt, dass zur Verbesserung der Bewertungsmethodik
verschiedene Kriterien zur Entscheidung unterschiedlich gewichtet werden müssen
und hat bisher drei Pilotstudien zu diesem Thema durchgeführt. "Von einer
regelhaften und systematischen Berücksichtigung von wissenschaftlichen Studien
zu den Patientenpräferenzen ist man in Deutschland heute jedoch noch weit entfernt",
unterstreicht Mühlbacher sein Fazit und fordert gleichzeitig stärkere
Berücksichtigung der Patienteninteressen und -orientierung in der
Gesundheitsversorgung.
Rascher und sicherer Zugang zu medizinischen Innovationen
In der Diskussion über Bewertungsverfahren für neue Arzneimittel spiegeln sich
die unterschiedlichen Vorstellungen und Sichtweisen von Arzneimittelentwicklern,
gemeinsamer Selbstverwaltung und Klinikern wider. Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär
der Deutschen Krebsgesellschaft, Berlin, sieht deshalb wesentliche Probleme bei der
Nutzenbewertung: bei der Bestimmung der geeigneten Vergleichstherapie (ZVT) und den
für die zur Bewertung herangezogenen unterschiedlichen klinischen Endpunkten wie
krankheitsfreies Überleben, progressionsfreies Überleben, Lebensqualität und
Gesamtüberleben. Deshalb fordert er auch, "wenn es bei einem Medikament aus der
Zulassung Hinweise darauf gibt, dass es das progressionsfreie Überleben
verbessert, dann ist das ein Grund, seinen Einsatz in Erwägung zu ziehen."
Bei der in Deutschland praktizierten frühen Bewertung des Zusatznutzens steht
die Kostenperspektive im Vordergrund. Ein Zusatznutzen wird erst dann anerkannt,
wenn ein neues Medikament im Vergleich zum bisherigen Standard das Gesamtüberleben
deutlich verbessert. Diese Diskrepanz macht deutlich, dass die Perspektiven in
der konkreten Versorgungssituation oft nur sehr schwer mit Kostenüberlegungen
vereinbar sind. "Für das Auseinanderdriften der gesetzlich geforderten Zulassung
und der Erfüllung von Ansprüchen für die Kostenerstattung eines Medikamentes muss
eine Lösung gefunden werden", so Bruns. "Der rasche und sichere Zugang zu
medizinischen Innovationen für alle betroffenen Krebspatienten ist essentiell
für den Behandlungserfolg."
Die Deutsche Krebsgesellschaft setzt sich dafür ein, sogenannte translationale
Tumorboards zu etablieren, um den Zugang zu Innovationen zu ermöglichen und
gleichzeitig mit allen Beteiligten verpflichtend Behandlungsergebnisse auszuwerten.
"So kann Wissen generiert werden, das Patienten, Ärzten und den für die
Preisverhandlungen verantwortlichen Organisationen zugutekommt", schlussfolgert
Dr. Johannes Bruns.
Nutzenbewertungsergebnisse sind Momentaufnahme
"Bei allem nachvollziehbaren Streben, die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung
verstärkt in den Therapiealltag von Ärzten zu integrieren, darf nicht vergessen
werden, dass die frühe Nutzenbewertung primär ein politisches Instrument zur
Preisregulierung im Arzneimittelmarkt darstellt.", mahnt Marco Annas, Leiter
Gesundheitspolitik, Bayer Vital GmbH. "Die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung
dürfen nicht unreflektiert als ärztliche Therapieempfehlung interpretiert werden,
da sie eine formalisierte Momentaufnahme der vorhandenen Evidenz darstellen."
So darf das Bewertungsergebnis des IQWiG keineswegs als endgültige und unumstößliche
Bewertung missverstanden werden. Die oft zitierten "internationalen Standards der
evidenzbasierten Medizin" geben keinesfalls vor, den Zusatznutzen so zu bewerten,
wie es derzeit in Deutschland der Fall ist. "Ein großes Problem bei der
Arzneimittelbewertung ist, dass das IQWiG stets nach der bestmöglichen Evidenz
verlangt, dabei aber aus formalen Gründen, die tatsächlich verfügbare Evidenz
ignoriert, aus der sich auch Informationen für die Quantifizierung eines
Zusatznutzens ableiten lassen", betonte Marco Annas. Häufig handelt es sich
dabei um die Zulassungsstudien des Arzneimittels. Dieses wenig pragmatische
Vorgehen unter dem Diktum der bestmöglichen Evidenz geht an der Realität zum
Zeitpunkt der frühen Nutzenbewertung vorbei und führt häufig zu ungerechtfertigt
schlechten Bewertungsergebnissen.
Umso wichtiger ist es für außenstehende Beobachter zu verstehen, dass ein nicht nachgewiesener Zusatznutzen keinesfalls gleichzusetzen ist mit dem Nachweis für keinen Nutzen. Letztlich kann die Frage nach einem Zusatznutzen nicht von Statistikern eines Instituts anhand von wenigen statistischen Kennzahlen final beantwortet werden. Hierfür sind immer Wertentscheidungen notwendig, die einen gesellschaftlichen Diskurs erfordern. Dabei müssen in Zukunft neben Patientenpräferenzen vor allem auch die Expertenmeinungen ärztlicher Fachgesellschaften einbezogen werden.
Quelle: Quelle: Pressegespräch: Arzneimittel-"TÜV" auf dem Prüfstand - Innovationen,
Nutzenbewertung, Rationierung am am 12. Juni 2017 in Berlin. Veranstalter: Bayer
Juni 2017 |
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