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Anticholinergika:
In der Therapie der überaktiven Blase beim älteren Patienten auf die Möglichkeit zentralnervöser Effekte achten


Verschiedene Anticholinergika überwinden die Blut-Hirn-Schranke in unterschiedlichem Ausmaß

    Der Ausbildung zentralnervöser Nebenwirkungen durch Anticholinergika steht im Prinzip die Blut-Hirn-Schranke entgegen (Abb.). Ferner trägt auch die Blut-Liquor-Schranke – insbesondere im Bereich der Plexus choroidei – zur Abschottung des Gehirns bei.

    Ob bzw. inwieweit eine Substanz die Blut-Hirn-Schranke dennoch passiv überwinden kann, hängt wesentlich von ihren physikochemischen Eigenschaften ab. Hierbei spielen die Größe und Polarität des Moleküls sowie die Löslichkeit in den lipophilen und hydrophilen Bereichen der Permeabilitätsbarriere eine entscheidende Rolle. Tertiäre Amine wie Oxybutynin und Tolterodin sind lipophil, das quaternäre, salzartige



    Trospiumchlorid hingegen ist hydrophil. Letzteres kann die Blut-Hirn-Schranke daher per Diffusion nicht überwinden. Inwieweit aktive Transportsysteme der Blut-Hirn-Schranke auch Anticholinergika ins Gehirn hinein und/oder hinaus befördern, ist bislang noch wenig untersucht.

    Zentralnervöse Nebenwirkungen unter einer Behandlung mit Anticholinergika, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden, kommen in erster Linie durch eine Blockade des im Gehirn vorherrschenden Rezeptortyps M1 zustande. Das kann sich besonders im Alter negativ auf kognitive Funktionen auswirken, wenn im Kortex des Frontallappens und im Hippokampus ohnehin weniger M1-Rezeptoren exprimiert werden.

Veränderungen der elektrophysiologischen Aktivität des Gehirns
    Ob bzw. inwieweit sich Oxybutynin, Tolterodin, Trospium-chlorid und Plazebo auf verschiedene Gehirnwellenfre-quenzen auswirken, wurde anhand quantitativ topographischer EEG vor und vier Stunden nach der Einnahme untersucht. Bei den Patienten, die Oxybutynin erhalten hatten zeigte sich bei vier Frequenzbanden (theta, alpha 1, alpha 2 und beta 1) ein signifikanter Leistungsabfall. Hingegen blieben die EEG unter Trospiumchlorid und Tolterodin in fünf von sechs untersuchten Frequenzbanden unverändert. Nur vereinzelt wurde ein Leistungsabfall bei den Theta-Wellen registriert [3].

Insbesondere bei älteren Patienten kann der REM-Schlaf negativ beeinflußt werden
    Die Einnahme von Antimuskarinika kann sich negativ auf die Schlafstruktur auswirken. Bei jungen gesunden Probanden wurde nach einmaliger Gabe von Oxybutynin im Schlaflabor eine signifikant verlängerte REM-Latenzzeit gegenüber Plazebo festgestellt, während Tolterodin und Trospiumchlorid keinen derartigen Effekt hervorriefen [4].
    Deutlicher machen sich substanzspezifische Unterschiede aber bei älteren Menschen ab 50 Jahren bemerkbar. Nach einmaliger Verabreichung von Oxybutynin oder Tolterodin war der REM-Schlaf jeweils signifikant beeinträchtigt. Mit Trospiumchlorid erreichte die Veränderung allenfalls Plazebo-Niveau [5].

    Offenbar gelangt Oxybutynin leichter als Tolterodin ins Gehirn. Mit dem Älterwerden läßt die Dichtigkeit der Blut-Hirn-Schranke aber nach, so daß beide Substanzen bei älteren Menschen zentralnervöse Effekte hervorrufen können.

Psychometrische Tests belegen Sicherheit einer Anticholinergika-Therapie
    Bei einer möglichen Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit spielen Sicherheitsaspekte im Verkehr eine besondere Rolle. Diesbezügliche Tests mit jüngeren gesunden Probanden zur visuellen Orientierung, Konzentrationsfähigkeit, Vigilanz, motorischen Koordination und der Reaktionen unter Streßbedingungen ließen keine Verschlechterungen unter einer siebentägigen Medikation mit Trospiumchlorid, Oxybutynin und Propiverin erkennen. Die Vigilanz betreffend zeichnete sich aber eine gewisse Überlegenheit für Trospiumchlorid ab [6, 7].

    Im Einklang mit der zu erwartenden Überwindung der Blut-Hirn-Schranke bzw. auch der Blut-Liquor-Schranke durch tertiäre Amine werden Schläfrigkeit bei einer Behandlung mit Oxybutynin in zwölf Prozent und mit Tolterodin in drei Prozent der Fälle angegeben. Hingegen liegen keine Berichte über Schläfrigkeit unter einer Behandlung mit Trospiumchlorid vor. Dies wird durch die Ergebnisse einer großen Plazebo-kontrollierten Phase-III-Studie unterstrichen: Bei den Probanden unterschiedlicher Altersgruppen, die Trospiumchlorid einnahmen, wurde anhand der validierten Stanford Sleepiness Scale weder eine erhöhte Schläfrigkeit tagsüber festgestellt, noch waren andere negative Effekte am Zentralnervensystem nachweisbar [8].

ZNS-Relevanz in der klinischen Erfahrung
    Aus einer Reihe von Fallberichten über schwerwiegende zentralnervöse Nebenwirkungen unter einer Therapie der überaktiven Blase bei Anwendung verschiedener antimuskarinerger Substanzen läßt sich ebenfalls auf molekülspezifische Unterschiede schließen. Bei Anwendung von Substanzen, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können, wurden vielfältige neuropsychiatrische Veränderungen beschrieben. Keine derartigen Befunde liegen für die Substanz Darifenacin vor. Deren Selektivität für M3- gegenüber M1-Rezeptoren schützt möglicherweise vor zentralnervösen Nebenwirkungen [9].

    Bei Patienten mit Krankheiten, aufgrund derer bereits ein cholinerges Defizit besteht, wie unter anderem bei der Parkinsonschen Krankheit, können sich die kognitiven Leistungen unter einer oralen Therapie mit Oxybutynin weiter verschlechtern. Unter Umständen kommt es sogar zur Auslösung eines schweren Parkinson-Syndroms [10].

    Aus Holland wurden 17 Fälle publik gemacht, bei denen Patienten (Kinder und Erwachsene) nach vorschriftsmäßiger Behandlung mit Oxybutynin neuropsy­chiatrische Nebenwirkungen erlitten. Das Beschwerdespektrum umfaßte Halluzinationen, Psychosen, Konzentrationsschwierigkeiten, Orientierungsprobleme, Apathie, Teilnahmslosigkeit, Unruhe und Schläfrigkeit [11].

    Beobachtungen, die darauf schließen lassen, daß die Blut-Hirn-Schranke im Alter durchlässiger wird, liegen von drei Patienten vor, die aufgrund von Gedächtnisstörungen Acetylcholinesterasehemmer einnahmen und zudem mit Tolterodin gegen überaktive Blase behandelt wurden. Hierbei schwächte sich die Wirkung des Demenzpräparates ab und die kognitiven Funktionen verschlechterten sich daraufhin dramatisch [12].

    Nach dem Vortrag „Anticholinergika und ZNS-Relevanz für die Therapie“ von Prof. Dr. med. Helmut Madersbacher (Innsbruck) anläßlich der 9. Bamberger Gespräche „Der ältere Patient mit Blasen­funktionsstörungen – Sinnvolle Diagnostik und Therapie in der Praxis“ am 10. September 2005 in Bamberg.

    Literatur:
    [1] Drachman DA, Leavitt J. 1974. Human memory and the cholinergic system. A relationship to aging. Arch Neurol 30:113-121.
    [2] Lechevallier-Michel N, Molimard M, Dartigues J-F, et al. 2005. Drug with anticholinergic properties and cognitive performance in the elderly: results from the PAQUID study. Br J Clin Pharmacol 59:143-151.
    [3] Todorova A, Vonderheid-Guth B , Dimpfel W. 2001. Effects of tolterodine, trospium chloride, and oxybutynin on the central nervous system. J Clin Pharmacol 41:636-644.
    [4] Diefenbach K, Donath F, Maurer A, et al. 2003. Randomised, double-blind study of the effects of oxybutynin, tolterodine, trospium chloride and placebo on sleep in healthy young volunteers. Clin Drug Invest 23:395-404.
    [5] Diefenbach K, Arold G, Wollny A, et al. 2005. Effects on sleep of anticholinergics used for overactive bladder treatment in healthy volunteers aged >or= 50 years. BJU Int 95:346-349.
    [6] Herberg KW, Füsgen I. 1997. Einfluß von Trospiumchlorid, Oxybutynin-HCl und Propiverin-HCl auf sicherheitsrelevante Leistungen. Geriatrie Forschung 7:77-83.
    [7] Herberg KW. 1999. Alltags- und Ver­kehrssicherheit unter Inkontinenz-Medikation: Neue Untersuchungen zum Sicherheitspotential urologischer Anticholinergika. Med Welt 50:217-222.
    [8] Staskin DR, Harnett MD. 2004. Effect of trospium chloride on somnolence and sleepiness in patients with overactive bladder. Curr Urol Rep 5:423-426.
    [9] Lipton RB, Kolodner K, Wesnes K. 2005. Assessment of cognitive function of the elderly population: effects of darifenacin. J Urol 173:493-498.
    [10] Donnellan CA, Fook L, McDonald P, Playfer JR. 1997. Oxybutynin and cognitive dysfunction. BMJ 315:1363-1364.
    [11] t´Veld BA, Kwee-Zuiderwijk WJ, Pui­jenbroek EP, Stricker BH. 1998. Neuropsychiatric adverse effects attributed to use of oxybutynin. Ned Tijdschr Geneeskd 14:590-592.
    [12] Edwards KR, O´Connor JT. 2002. Risk of delirium with concomitant use of tolterodine and acetylcholin-esterase inhibitors. J Am Geriatr Soc 50:1165-1166.

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